Lieber schlau als blau - für Jugendliche

DIE ZEIT im Januar 2012

Freibier im Unterricht

„Lieber schlau als blau“ – wie Schüler den maßvollen Umgang mit Alkohol lernen sollen VON KRISTINA MAROLDT

Um Punkt halb sechs eröffnet Heike Roth, Biologielehrerin an einer kleinen Oberschule in Brandenburg, die Bar. Hinter ihr warten zwei Kasten mit Bier und Alcopops, vor ihr 13 hibbelige Zehntklassler. Zwei bis vier Flaschen wird jeder von ihnen in den nächsten zwei Stunden trinken, dazwischen Promilletests und Konzentrationsspiele machen und die Ergebnisse in einem „Trinkprotokoll“ notieren. „Trinkexperiment“ nennt sich das Ganze. Es ist Teil eines ziemlich ungewöhnlichen Alkoholpräventionsprogramms für Schulen, das der Psychologe Johannes Lindenmeyer und die Sozialpädagogin Simone Schramm von der Salus Klinik Lindow vor vier Jahren entwickelt haben. Seit Ende 2008 wird es in brandenburgischen Schulen durchgeführt, finanziert vom Gesundheitsministerium.

Pubertierende Teenies, ist man dort überzeugt, lernten den verantwortungsvollen Alkoholkonsum allemal besser durch Selbsterfahrung als durch Abschreckung und Verbote. Suchtexperten sehen das ähnlich. Rainer Thomasius zum Beispiel, der Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Uni-Klinikum Hamburg-Eppendorf. Ihn stört zwar, dass auch bei diesem Ansatz die Verantwortung von den Eltern auf die ohnehin überlasteten Schulen geschoben wird. „Das lebensnahe Setting finde ich aber sehr gut.“ Ebenso wie die Tatsache, dass Lindenmeyer und Schramm das Projekt derzeit an Schulen in ganz Deutschland evaluieren: „Das kommt leider viel zu selten vor.“ Viel Lob also für ein noch recht neues Projekt ‐ trotzdem mochte Heike Roth ihren Namen und den der Schule lieber nicht in der Zeitung lesen. Zu gewagt scheint ihr das angesichts des Sturms der Empörung, den das „Lieber schlau als blau“-Programm im benachbarten Berlin auslöste. Als Lindenmeyer und Schramm ihren Workshop dort an Schulen vorstellen wollten, ging die Senatsverwaltung auf die Barrikaden: Kollektivsaufen im Unterricht? Schnapsidee! Bis in die Tagesthemen brandete die Aufregung. Am Ende riet der Senat den Schulen offiziell von der Durchführung ab: Ziel sei es schließlich, den „Alkoholkonsum bei Kindern und Jugendlichen so weit wie möglich hinauszuschieben.“ Simone Schramm steht an diesem Abend neben Heike Roth und kontrolliert per Liste, dass jeder Schuler nur so viel trinkt, wie ihm die Eltern vorher schriftlich erlaubt haben. Sie sagt, die Einstellung der Berliner sei „blauäugig“: „Man kann doch die Realität nicht ausblenden! Das erste Glas trinken 80 Prozent schon mit 14, mit 15 haben sie den ersten Rausch. Dazu kommt das Problem mit den Komatrinkern.“ Selbstverständlich werde beim Schulexperiment kein Nichttrinker zum Trinken animiert. „Doch die, die schon Erfahrung haben, können im kontrollierten Rahmen erfahren, was Alkohol bewirkt: Wie verändere ich mich? Wann sollte ich aufhören?“ Außerdem sei so ein Praxistest ein Motivationshaken. Welcher Teenager rede schon freiwillig mit seinen Lehrern über Alkohol?

Marcel hat auf jeden Fall schon angebissen. Der 16-Jährige sitzt mit seinen ersten zwei Bier im Bürgertreff, wo das Experiment durchgeführt wird, und findet den Workshop „zumindest besser als den Mist, den wir vorher zum Thema gemacht haben. Vorträge, Theaterstücke ‐ da lernt man doch nichts Neues.“ Er ist vor allem auf die Auswertung der Fragebögen zum Alkoholkonsum gespannt, die sie vorhin ausfüllen mussten. Bei der Nachbereitung nächste Woche sollen die Schüler erfahren, ob sie schon jetzt einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol pflegen. Marcel, erstes Glas mit 14, erster Vollrausch kurz darauf, rechnet mit einem guten Abschneiden: „Ich weis, wie viel ich vertrage.“ Klar, in den Ferien komme es schon mal vor, „dass ich mich jeden dritten Tag volllaufen lasse. Aber manche sind echt harter drauf.“ Dass die vier Bier heute Abend bei ihm irgendeine negative Wirkung hatten, glaubt er nicht: „Da bin ich höchstens angeheitert.“ Marie ist sich da nicht so sicher. Die 15-Jährige sitzt noch etwas schüchtern vor ihren ersten zwei Beck’s Green Lemon. Da sie unter 16 ist, wird sie beim Experiment nur halb so viel trinken wie Marcel. Trotzdem ist sie „echt gespannt, wie fit ich danach bin.“ Mehr als zwei Alcopops trinke sie nämlich auch auf Partys selten. „Schmeckt halt lecker. Ich brauch’s aber nicht.“ Sechs Uhr: Zeit für die erste Testrunde. Die Schüler haben ihre erste Ration geleert, die Stimmung erinnert jetzt ein bisschen an Abschlussfahrt: Durch den Raum wabern Bier- und Chipsdünste. Aus der Mädchenecke kichert es in steigender Frequenz, in der Jungsecke versucht man derweil engagiert, Kronkorken mit den Händen zu zerdrucken. Roth steht mit Schramm und der zweiten Aufsichtslehrerin gespannt daneben.

Ein Jahr hat sie gekämpft, um den Workshop durchfuhren zu können. „Der Aufwand ist ja schon enorm. Ich verstehe, dass das manche Schulen abschreckt.“ Bisher, findet sie, hat es sich aber gelohnt: „Gucken Sie doch, wie die jetzt schon aus dem Hauschen sind. Immer sagen sie, dass sie zwei Bier locker wegstecken. Ich wünschte, die konnten sich jetzt sehen.“

Marcel fühlt sich auf jeden Fall topfit. 0,27 hat der Promilletest ergeben. Jetzt macht er mit roten Wangen das Computerspiel, das er vor dem Experiment schon gespielt hat: Er muss ungerade von geraden Zahlen trennen. Und schafft es sogar acht Sekunden schneller als beim ersten Mal. Schwungvoller Vermerk auf dem Protokoll: „Stimmung: besser.“ Auch Marie ist schneller ‐ und erstaunt: „Ich dachte, Bier macht langsamer ....“

Sieben Uhr: Die zweite Ration ist verteilt, der Lärmpegel steigt. Marie nuckelt mit heißem Gesicht an ihrem vierten Mixgetränk und kann plötzlich nicht mehr aufhören, über ihre Freundin zu lachen. Marcel kippt seine zweiten Biere genauso schnell weg wie die ersten, braucht dann aber ewig, um sein Handy zu finden: „Na, so was. Dass mir das schon so früh passiert.“ Beim Spiel kämpfen beide verbissen. Marcel schafft es knapp, sich noch mal zu steigern. Marie dagegen braucht neun Sekunden länger: „Krass, was zwei Flaschen mehr ausmachen.“

Auch andere haben mit den Promille zu kämpfen. Kurz bevor die ersten Eltern kommen, um ihre Kinder abzuholen, rennt plötzlich ein Junge raus, muss sich übergeben. „Absturz“, grölen seine Kumpels, die Mädchen gucken erschrocken. Und Roth wird nun doch etwas nervös: „Zehntklassler und Alkohol ‐ war das doch keine so gute Idee?“ Als die Mutter des Jungen kurz darauf eintrifft, legt sich die Aufregung etwas: Seit dem Frühstuck, stellt sich heraus, hat der 16-Jährige nichts gegessen. „Da ist es kein Wunder, dass ihm nach drei Alcopops übel wird“, findet Schramm. Der Klasse erklärt sie: „Über solche Sachen werden wir nächste Woche noch sprechen.“ Zu Roths Erleichterung reagiert auch die Mutter des Jungen gelassen: „Vielleicht ganz gut, dass das mal passiert. Hat hoffentlich einen Lerneffekt.“ Auf Marie hat der Vorfall jedenfalls Eindruck gemacht. „Dass einem schon nach so wenig Alkohol schlecht werden kann, wenn man wenig gegessen hat, wusste ich nicht. Da pass ich in Zukunft sicher besser auf“, sagt sie eine Woche später. Da hat die Klasse gerade die Nachbereitung absolviert: drei Schulstunden, in denen die Schuler nicht nur lernten, wie man Betrunkenen im Notfall Hilfe leistet, sondern auch „Trinkregeln“ aufstellten und diskutierten, ob Mädchen Jungen, die viel trinken, tatsächlich cooler finden. Marie sagt: „Irgendwann stellte sich heraus, dass es eigentlich keiner von uns gut findet, wenn der andere viel trinkt. Trotzdem machen es alle. Schon verrückt.“

Marcel ist nicht so zufrieden: Das Experiment fand er zwar „toll, weil man beobachten konnte, wie sich alle beim Trinken verändern.“ Doch die Auswertung der Fragebogen hat ihn empört: „Da kam raus, ich bin >Anfänger<! Wie drei Viertel der Klasse. Das kann doch nicht stimmen!“ Heike Roth sieht das etwas anders: „Klar hören die nicht gern, dass sie Anfänger sind. Aber es geht ja nicht darum, wie viel man trinkt, sondern wie verantwortungsvoll man mit Alkohol umgeht.“ Der Workshop, glaubt sie deshalb, war genau das Richtige: „Der wird was in Gang setzen. So offen haben die noch nie über Alkohol gesprochen.“ Trotz des turbulenten Endes überlegt sie, das Experiment mit einer anderen Klasse zu wiederholen. Dann aber am liebsten mit Kamera: „Als uns das Programm vorgestellt wurde, war das auch noch Teil des Experiments. Inzwischen hat man davon Abstand genommen, damit die Schuler sich beim Zeigen des Films vor der Klasse nicht schämen müssen. Ich fände das aber eigentlich ganz gut: Wie sollen sie sonst merken, was Alkohol aus ihnen macht?“

  • Die Namen der Lehrer und Schuler wurden von der Redaktion geändert
  • Anmerkung der Frau Schramm: Mit Alkopops sind hier Biermixgetränke gemeint.

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